Wenn Risikoforscher die Messe der Energiestrategie stören
Abbildung 1: Durch Nebelschicht dringende Sonne (Bildquelle).
10. Dezember 2023
Diesen Sommer habe ich in der NNZ einen Artikel über die Energiestrategie des Bundes gelesen. Darin legen die Risikoforscher Didier Sornette und Euan Mearns dar, warum sie diese für Wunschdenken halten. Damit sind sie angetreten, die Messe etwas zu stören.
In ihrem Arbeitspapier zeigen die Autoren auf, dass im Januar 2050 eine extrem hohe Stromimportquote von 69% auftreten könnte. Diese Folgerung basiert auf einem einfachen Modellierung des Energiesystems des Jahres 2050 basierend auf den Wetterdaten des Jahres 2017.
Der gewählte Ansatz ist zwar einfach, aber nicht falsch und er ist geeignet auf allfällige Probleme bei schwierigen Wettersituationen hinzuweisen. Zumindest war ich selber von den Schlussfolgerungen der Autoren nicht wirklich überrascht. An dieser Einschätzung ändert sich auch wenig, wenn man berücksichtigt, dass die Ausführungen zur saisonalen Speicherung in der gleichen Publikation etwas am Thema vorbeigehen.
Erstaunt war ich hingegen von der ausserordentlich scharfen Reaktion der Professor/innen Gabriela Hug, Christian Schaffner und Tobias Schmidt des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich. In ihrer Replik werden die Bedenken von Sornette und Mearns mit Verweis auf die Komplexität des Gesamtsystems, nicht verifizierbare eigene Modelle und den breiten wissenschaftlichen Konsens zur Energiewende einfach weggewischt. Solche Argumente sind nicht wirklich überzeugend und haben mich letztlich veranlasst die Klimastrategie des Bundes mit einer einfachen und nachvollziehbaren Methodik zu plausibilisieren (siehe https://georgschwarz.ch/energiewende/).
Gestützt auf die Ergebnisse dieser Plausibilisierung gehe ich im Folgenden auch auf die in der Replik des ESC vorgebrachten Argumente ein.
- Falschannahmen zum Stromverbrauch im Jahr 2050
Das ESC kritisiert, dass Stromverbrauch und -produktion von 2017 für 2050 einfach um 37% hochskaliert werden. Verschiebungen in den Verbrauchs- und Erzeugungsmustern würden dabei komplett ignoriert.
Die von Sornette und Mearns angenommenen 37% stützen sich wie in ihrem Literaturverzeichnis vermerkt ist, auf Angaben aus dem Buch von Nationalrat Roger Nordmann (vgl. Nordmann, R. (2019) Le plan solaire et climat. Favre). Nordmann ist vielleicht nicht die ultimative wissenschaftliche Referenz, ein Gegner der Solarenergie ist er aber sicher nicht. Zudem wird die Annahme von Sornette und Mearns auch durch die Energieperspektiven 2050+ des Bundes gestützt. Demgemäss steigt der Strommehrverbrauch bis im Jahr 2050 um 33%. Die Differenz zu den von Sornette und Mearns angenommenen 37% ist unbedeutend und ändert nichts an ihren Schlussfolgerungen. - Wahl des Basisjahres 2017
Das ESC kann die Wahl des Basisjahr 2017 nicht nachvollziehen, wo doch Produktion und Bedarf stark zwischen den Jahren schwanken würden.
Wenn man auf ein Problem aufmerksam machen will, ist es völlig legitim, dazu auf Daten eines Jahres zurückzugreifen, in dem das Problem auch aufgetreten ist. Das zukünftige Energiesystem muss die Stromversorgung auch in nicht durchschnittlichen Zeiten gewährleisten können. - Vernachlässigung aller Technologien ausser der Gebäudephotovoltaik
«Wenn man – mit Ausnahme der Photovoltaik – alle anderen Technologien ausschliesst, ist es einfach, eine extreme Mangelsituation herbeizurechnen.» lautet eine weitere Kritik des ESC.
Sornette und Mearns weichen lediglich in zwei Punkten von den Energieperspektiven 2050+ ab. Sie kreditierten weder die dort berücksichtigte Stromproduktion von 2,0 TWh/a mittels Geothermie noch diejenige von 4,3 TWh/a mittels Windenergie. Alle anderen Produktionsannahmen entsprechen der Energiestrategie des Bundes. Wie in https://georgschwarz.ch/geothermie/ aufgezeigt wird, ist eine geothermische Stromproduktion von 2 TWh/a illusorisch. Die Weglassung durch Sornette und Mearns ist somit wohlbegründet. Zur Windenergie ist zu bemerken, dass sich gemäss https://pubdb.bfe.admin.ch/de/publication/download/8037 die Windstromproduktion im Januar 2017 auf rund 9% der Jahresproduktion belief. Umgerechnet auf die im Jahr 2050 angenommenen 4,3 TWh/a ergibt dies 0,4 TWh/a. Wenn diese Produktion mitberücksichtigt wird, resultiert immer noch ein Defizit von 5,6 TWh/a im Modellmonat. Auch unter Berücksichtigung dieses unbedeutenden Beitrages, wäre im Modellmonat eine ausgeprägte Mangelsituation aufgetreten. - Unterschätzung der Flexibilität der inländischen Wasserkraft
Die heutigen Produktionsmuster von Wasserkraftwerken würden einfach in die Zukunft fortgeschrieben, scheibt das ESC, obwohl detaillierte Modelle und Erfahrungen zeigten, dass diese für den Winter angepasst werden können (Stichwort Winterreserve).
Die Kapazität der schweizerischen Speicherkraftwerke beläuft sich heute auf ca. 9,0 TWh/a und kann bis 2050 nicht signifikant gesteigert werden. Statt wie von Sornette und Mearns angenommen, den fehlenden Strom aus dem Ausland zu importieren, hätte das Stromdefizit des Modellmonats auch aus den schweizerischen Speicherseen gedeckt werden können. Wenn die Stauseen anfangs Winter voll sind, können sie diese 9,0 TWh/a im Laufe des Winters wieder abgeben – nicht mehr. Im Modellmonat wurden 6,0 TWh/a verbraucht. Wenn diese 6,0 TWh/a statt importiert, aus den schweizerischen Speicherseen bezogen worden wären, hätten die Speicherreserve innerhalb nur eines Monats um zwei Drittel abgenommen. In einem Monat in dem nur verbraucht wird, können auch die vom ESC genannten «detaillierten an den Winter angepasste Modelle und Erfahrungen» nichts beitragen. - Nichtberücksichtigung der Einspeisekapazität von Pumpspeicherwerken
Das ESC bemängelt, dass der Stromverbrauch von Pumpspeicherwerken zwar hochskaliert werde, deren Einspeisung jedoch ignoriert werde.
Pumpspeicherwerke können kurzfristige Überschüsse um maximal einige Tage zwischenspeichern, um allfällige Defizite zu decken. In einem Monat, in dem keine Überschüsse anfallen, gibt es auch nichts zwischenzuspeichern. Beim Modellmonat handelt es sich um einen solchen Monat, weshalb die Kritik des ESC im vorliegenden Zusammenhang irrelevant ist. - Vernachlässigung aller Technologien ausser der Gebäudephotovoltaik
Last but not least kritisiert das ESC am Schluss seiner Replik zum zweiten Mal, dass gemäss der Studie Sornette und Mearns bis 2050 fast ausschliesslich Photovoltaik zugebaut werde. Alle anderen Aspekte zum Beispiel saisonale Speichertechnologien oder Importe von synthetischen Kraftstoffen, bei denen grosse Fortschritte erzielt wurden, würden ausgelassen.
Sornette und Mearns folgen bezüglich der Gewichtung der Gebäudephotovoltaik der Strategie des Bundes. Die vom ESC erwähnten Aspekte sind nicht in die Energieperspektiven 2050+ eingeflossen. Auch dort wird fast ausschliesslich auf Gebäudephotovoltaik gesetzt.
Wie sich aus den obigen Ausführungen zeigt, kann jedes vom ESC gegen das Arbeitspapier von Sornette und Mearns vorgebrachte Argument auf einfache Weise widerlegt werden.
Die Replik des ESC schliesst mit einer länglichen Kritik an der Atomenergie und dem Verweis auf den breiten wissenschaftlichen Konsens bezüglich der Energiestrategie des Bundes. Sornettes Eindruck, dass Wissenschafter zuweilen den Wunsch, politische und soziale Empfindlichkeiten nicht zu verletzen, höher stellten, als das Streben nach einer praktikablen Energiepolitik, wird durch diese Replik des ESC voll bestätigt.