Umweltverbände im Restwasserdilemma
Abbildung 1: Maggiamündung (Bildquelle).
23. März 2023
Der Nationalrat verknüpft die Erreichung der Energieziele mit der Erhöhung der Restwassermengen. Obwohl dieser Entscheid nur geringe direkte ökologische Auswirkungen hat, ist der Widerstand dagegen gross. Werden die Energieziele nicht erreicht, können auch die Restwassermengen nicht erhöht werden. Es sei denn, man kompensiere die restwasserbedingten Produktionsverluste durch andere Anlagen. Dafür bräuchte es beispielsweise zwischen 285 und 796 zusätzliche Windturbinen oder 98 bis 273 alpine Solaranlagen in der Grösse von Gondosolar.
im Rahmen der Beratung des sogenannten Mantelerlasses bestätigte der Nationalrat die ambitionierten Ausbauziele des Ständerates für neue Erneuerbare, insbesondere für die Gebäudephotovoltaik. Gleichzeitig beschloss der Nationalrat äusserst knapp mit 95 gegen 94 Stimmen, gewisse Restwasservorschriften zugunsten der im Mantelerlass festgesetzten Energieziele bis 2035 zu sistieren. Für Linke und Umweltschützer wurde mit diesem Entscheid eine rote Linie überschritten. Um den Ständerat zu einer Korrektur des nationalrätlichen Beschlusses zu bewegen, bauen sie zusammen mit den Fischereiverbänden nun Druck auf.
Doch worum geht es bei der vom Nationalrat beschlossenen Sistierung überhaupt?
Das Restwasser, über welches der Nationalrat abgestimmt hat, hat eine sehr lange Vorgeschichte. Es begann 1984 mit der von Kreisen des Umweltschutzes und der Fischerei lancierten Initiative «zur Rettung unserer Gewässer». Das Parlament stellte dieser Initiative einen indirekten Gegenvorschlag in Form einer Revision des Gewässerschutzgesetzes entgegen. Bei der Abstimmung im Jahr 1992 wurde die Initiative mit einem Nein-Stimmenanteil von 62,9% deutlich verworfen. Das revidierte Gewässerschutzgesetz wurde jedoch ebenso deutlich mit 66,1% Ja-Stimmen angenommen.
Mit der Gesetzesrevision von 1992 wurden die gesetzlichen Anforderungen bezüglich der zulässigen Restwassermengen verschärft (vgl. Art. 31 bis 33, Gewässerschutzgesetz). Auf Druck der später zurückgezogenen Initiative «Lebendiges Wasser» wurde 2011 zudem die Sanierungspflicht von Wasserkraftnutzungen, die schon vor 1992 bestanden, eingeführt (vgl. Art. 80, Gewässerschutzgesetz).
Die Verschärfungen treten erst nach und nach bei Neukonzessionierungen bzw. Umbauten von Wasserkraftwerken in Kraft und führen so im Laufe der Jahre zu einer Erhöhung der Restwassermengen und damit zu einer Reduktion der Wasserkraftproduktion.
Die nun vom Nationalrat beschlossene Sistierung der Restwasserregelung führt nicht, wie oft behauptet, zu weniger Restwasser in den Gewässern. Sie verzögert lediglich künftige Erhöhungen. Sie betrifft zudem nur die Restwassermengen bei Neukonzessionierungen nach Art. 30 bis 33 und nicht die Sanierungspflicht für bestehende Wasserkraftwerke nach Art. 80. Die Pflicht zur Beseitigung von ökologischen Beeinträchtigungen durch die Wasserkraftnutzung, wie z.B. die Sanierung von Hindernissen, welche die Fischwanderung wesentlich beeinträchtigen, bleibt weiterhin bestehen.
Um wieviel sinkt die Stromproduktion wegen den Restwassererhöhungen?
Es ist klar, dass die Stromproduktion sinkt, wenn mehr Wasser ungenutzt am Kraftwerk vorbeigeleitet werden muss. Der genaue Betrag dieser Reduktion hängt jedoch stark von der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen ab und ist noch nicht bekannt.
Um Klarheit zu schaffen, hat der schweizerische Wasserwirtschaftsverband (SWV) in einem Bericht die Auswirkungen von verschiedenen Interpretationen der gesetzlichen Bestimmungen in vier Szenarien untersucht.
- In Szenario 1 mit den geringsten Anforderungen, wird die bisherige Praxis bei Neukonzessionierungen fortgesetzt. Das Szenario 1 hat die geringsten zukünftigen Produktionseinbussen zur Folge und wurde bei den Energieperspektiven 2050+ als Planungsgrundlage verwendet.
- Bei Szenario 2 werden erhöhte Anforderungen an die für die freie Fischwanderung erforderliche Mindestwassertiefe gestellt (Art. 31, Abs. 2 Bst. d, Gewässerschutzgesetz). Es führt zu einer relativ geringen weiteren Produktionseinbusse.
- Das Szenario 3 erhöht die Anforderungen zum Schutz seltener Lebensräume und -gemeinschaften (Art. 31, Abs. 2 Bst. d, Gewässerschutzgesetz). Die damit verbundenen zusätzlichen Energieeinbussen würden gemäss SWV die Konzessionserneuerungen von Anlagen im Einflussbereich von Auen infrage stellen.
- In Szenario 4 wird angenommen, dass jederzeit 30% des natürlichen Abflusses im Gewässer verbleiben muss (simultan-dynamische Restwasserdotierung). Dieses aus ökologischer Sicht optimale Szenario führt bei einer gesamtschweizerischen Anwendung zu den grössten Produktionseinbussen.
In Tabelle 1 sind die mit den verschiedenen Szenarien verbundenen Produktionseinbussen zusammengestellt. Sie reichen von 3,07 TWh/a weniger bei der Beibehaltung der bisherigen Praxis bis 7,75 TWh/a weniger bei der ökologisch optimalen Variante. Umgerechnet auf die heutige Wasserkraftproduktion von 36,7 TWh/a entspricht dies Einbussen von 8,4% bis zu 21,1%.
Tabelle 1: Produktionseinbussen aus den Restwasserbestimmungen für die vier untersuchten Szenarien in TWh/a (vgl. Tabelle 1, https://www.swv.ch/fileadmin/user_upload/site/PDF/WEL-4-2018_Energieeinbussen_hq.pdf).
Zeitperiode | Szenario 1 | Szenario 2 | Szenario 3 | Szenario 4 |
1992 – 2017 | 0.56 | 0.56 | 0.56 | 0.56 |
2018 – 2035 | 0.81 | 0.86 | 1.11 | 1.62 |
2036 – 2050 | 1.47 | 1.66 | 2.54 | 4.75 |
2051 – 2070 | 0.23 | 0.28 | 0.44 | 0.78 |
Total 1992 – 2070 | 3.07 | 3.36 | 4.65 | 7.75 |
Total 2018 – 2050 | 2.28 | 2.52 | 3.65 | 6.37 |
Bis 2035, dem Zeitpunkt bis zu welchem die Sistierung des Nationalrates wirksam ist, werden nur relativ wenige Neukonzessionen fällig. Die damit verbundenen Produktionsverluste belaufen sich in Szenario 1 auf 0,81 TWh/a. Davon entfällt rund die Hälfte auf Sanierungen gemäss Art. 80, welche vom Entscheid des Nationalrates nicht berührt werden. Die verbleibenden rund 0,4 TWh/a sind, wie von den Umweltverbänden hervorgestrichen, für die Energiesicherheit wenig bedeutsam.
Welche ökologische Bedeutung haben die Restwassererhöhungen?
Die derzeitige Restwassermenge der Wasserkraftwerke entspricht einer Jahresproduktion von 4,2 TWh/a. Aufgrund der in Tabelle 1 zusammengestellten Szenarien werden die Restwassermengen je nach Szenario um 69% bis 186% steigen.
Wie erwähnt hat der Sistierungsentscheid des Nationalrates nur wenig Einfluss auf die Stromversorgung. Im Umkehrschluss ist aber auch seine ökologische Bedeutung gering. Trotz der Sistierung werden die Restwassermengen in den schweizerischen Gewässern bis zum Jahr 2035 nicht sinken, sondern um 10% steigen. Ohne die Sistierung würden sie um 20% steigen.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese geringe Differenz irgendwelche Auswirkungen auf den von den Gegnern der Lockerung als Argument angeführten bedrohten Fischbestand hat. Auch das Argument, wonach zu wenig Restwasser lokal die Trinkwasservorräte reduziere und die landwirtschaftliche Bewässerung einschränken würde, ist unzutreffend. Das für die Stromproduktion genutzte Wasser geht ja nicht verloren, sondern wird nach der Turbinierung wieder in die Gewässer geleitet.
Weshalb der heftige Widerstand?
Die vom Nationalrat beschlossene Sistierung der Erhöhung der Restwassermengen bei Neukonzessionierungen bis 2035 hat wie oben aufgezeigt nur geringe Auswirkungen sowohl auf die Energiesicherheit als auch auf die Ökologie.
Die Brisanz des nationalrätlichen Entscheides ergibt sich vielmehr aus der Verknüpfung der Dauer der Sistierung mit dem Erreichen der Ausbauziele bei der Wasserkraft. Gemäss dem Ausbauziel muss die Wasserkraftproduktion bis 2035 von 36,7 TWh/a auf 37,9 TWh/a erhöht werden. Dies erfordert einen Ausbau der Produktion um 1,2 TWh/a. Hinzu kommen 0,4 TWh/a, welche aufgrund der Sanierungspflicht gemäss Art. 80 verloren gehen. Wird der geforderte Zubau von 1,6 TWh/a nicht erreicht, muss der Bundesrat die Ausserkraftsetzung der Restwasserbestimmungen verlängern.
Vor dem Hintergrund, dass sich das Ausbaupotenzial der Wasserkraft auf 5,8 TWh/a beläuft, scheint ein Ausbauziel von 1,6 TWh/a nicht besonders ehrgeizig. Dabei ist aber zu beachten, dass das genannte Ziel allein mit den unumstrittenen Erneuerungen und Erweiterungen der bestehenden Kraftwerke nicht erreicht werden kann. Für die Zielerreichung müssen zwingend auch Neubauten realisiert werden.
Und daraus ergibt sich das Dilemma der Umweltverbände: Wenn sie weiterhin an einem Ausbau der Wasserkraft festhalten wollen, müssen sie in Zukunft Position beziehen. Entweder sind sie
- gegen Neubauprojekte. Dann aber dürfen die Restwassermengen nicht erhöht werden oder
- für den Zubau der nötigen neuen Wasserkraftwerke, was im Gegenzug auch höhere Restwassermengen erlaubt.
Eine Erhöhung der Restwassermenge gibt es also nur zum Preis der Zustimmung zum Bau neuer Kraftwerke.
Alternativen zum Dilemma
Falls sich die Umweltverbände aber gegen Wasserkraftwerks-Neubauten entscheiden und trotzdem die Restwassermengen erhöhen wollen, werden die Erträge der Wasserkraft sinken. Die Ausbauziele der Energiestrategie können dann nicht erreicht werden.
Im Szenario 1 mit den geringsten Anforderungen müssten bis 2050 2,28 TWh/a bereitgestellt werden. Falls die ökologisch optimale Variante gemäss Szenario 4 flächendeckend umgesetzt wird, beläuft sich der Ersatzbedarf sogar auf 6,37 TWh/a.
Zur Kompensation dieser Produktionsverluste würden zwischen 285 und 796 Windturbinen oder 98 bis 273 alpine Solaranlagen von der Grösse von Gondosolar benötigt.