Stromgesetz: Wahrung der Mitsprache- und Beschwerderechte

Abbildung 1: Aqua Viva engagiert sich für den Erhalt des Triftgebiets (Bildquelle).

23. Mai 2024

Das Bundesamt für Energie (BFE) macht in seinem vierten Faktenblatt geltend, dass mit dem Stromgesetz die demokratischen Mitspracherechte der Bevölkerung und die juristischen Beschwerdemöglichkeiten von Privatpersonen und Verbänden gewahrt blieben. Das ist zwar formal richtig, aber beschönigend. In der Praxis wird es in Zukunft kaum mehr möglich sein, den Bau von Grosskraftwerken mit den demokratischen oder rechtlichen Mitteln zu verhindern.

Am 9. Juni entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung über das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien – das sogenannte Stromgesetz. Ich gehe in einer Serie von Blogs auf die vom BFE publizierten Pro-Argumente zum Stromgesetz näher ein (siehe).

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den demokratischen und rechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung von Grosskraftwerken wie Wasserkraftwerken, Windparks und alpinen Solarparks. Für die juristischen Details verweise ich auf das Rechtsgutachten von Dr. Lukas Pfisterer, Rechtsanwalt und Grossrat der FDP im Kanton Aargau.

Zielvorgaben

Das Stromgesetz enthält klare Zielvorgaben für die zukünftige Stromproduktion. Der grösste Teil des im Jahr 2050 benötigten Stromes soll mithilfe von Gebäudephotovoltaik erzeugt werden. Trotzdem braucht es um die Stromversorgung auch im Winter sicherzustellen, neue grosse Wasserkraftwerke sowie Wind- und alpine Solarparks mit einer Winterproduktion von 6 TWh/a.

Diese sind jedoch heftig umstritten und werden von NGOs hartnäckig gerichtlich bekämpft. In den letzten zehn Jahren konnten deshalb in der Schweiz lediglich ein neuer Stausee (Muttsee) und zwei neue Windparks gebaut werden (Gotthard und Sainte-Croix). Alpine Solarparks konnten bis heute gar keine realisiert werden.

Um die Zielvorgabe von 6 TWh/a an zusätzlichem Winterstrom zu erfüllen, müssen deshalb die gesetzlichen Hürden für neue Grosskraftwerke gesenkt und die Bewilligungsverfahren beschleunigt werden. Und genau das leistet das neue Stromgesetz, indem es die Möglichkeiten zur Verhinderung von Grosskraftwerken mit demokratischen und rechtlichen Mitteln stark einschränkt.

Planungsverfahren

Bereits heute gilt, dass die Kantone «geeignete Gebiete» insbesondere für die Nutzung der Wasser- und Windkraft im Richtplan festlegen müssen. Sie müssen dabei die Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes berücksichtigen. Es gilt jedoch auch die Vorgabe, dass die Nutzung erneuerbarer Energien und ihr Ausbau von nationalem Interesse sind und die Ausbauziele des Stromgesetzes bei der Abwägung einzubeziehen sind.

Grosse Wasserkraftwerke, Solar- und Windenergieanlagen gelten als von nationalem Interesse und haben in diesen «geeigneten Gebieten» vom Gesetz gewollt grundsätzlich Vorrang. Mit der Aufnahme im Richtplan gilt, dass:

  • ihr Bedarf ausgewiesen ist
  • sie standortgebunden sind
  • und dass das Interesse an ihrer Realisierung anderen nationalen Interessen sowie entgegenstehenden Interessen von kantonaler, regionaler oder lokaler Bedeutung grundsätzlich vorgeht

Es ist deshalb davon auszugehen, dass unter diesen Voraussetzungen eine Baubewilligung kaum verweigert werden kann. Gemäss Faktenblatt hat dies zur Folge, dass sich die Planung solcher Anlagen dadurch auf «geeignete Gebiete» konzentriert, was sowohl aus Sicht der Stromproduktion als auch aus Sicht des Schutzes von Natur und Landschaft sinnvoll sei.

Es ist zudem auch möglich Grossanlagen ausserhalb von geeigneten Gebieten zu bauen. Dies gilt selbst für Gebiete, die im Bundesinventar für Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) aufgeführt sind. In diesen Gebieten ist jedoch der Bedarf und die Standortgebundenheit nachzuweisen.

Mitspracherechte der Bevölkerung

Im Faktenblatt wird betont, dass die demokratischen Mitspracherechte der Bevölkerung auf kantonaler und kommunaler Ebene erhalten bleiben. Dies ist zwar grundsätzlich richtig, geht aber am Thema vorbei. Der wichtigste Entscheid, die Einstufung eines Gebietes als «geeignetes Gebiet» für Grossanlagen und dessen Aufnahme in den kantonalen Richtplan, unterliegt keinerlei demokratischer Kontrolle. Die Richtpläne werden von den Kantonsregierungen bzw. den Kantonsparlamenten endgültig beschlossen. Ein Referendum ist nicht möglich.

Es gibt auch keine direkte Beschwerdemöglichkeit für Private oder Verbände gegen Richtpläne. Lediglich die Gemeinden können einen Richtplan wegen Verletzung der Gemeindeautonomie anfechten, allerdings mit geringen Erfolgschancen.

Beschwerdemöglichkeiten von Privatpersonen und Verbänden

Bei Grossanlagen in «geeigneten Gebieten» unterliegen weder der Bedarf und damit die Grösse der Anlage noch der Standort einer rechtlichen Überprüfung. Im nachfolgenden Nutzungsplanungs- bzw. Baubewilligungsverfahren sind die Argumente gegen Solar- oder Windparks damit bereits erheblich eingeschränkt. Soweit Ermessensentscheide zu treffen sind, muss zudem das nationale Interesse an den Anlagen gleich oder höher gewichtet werden als andere nationale, kantonale und kommunale Interessen. Im Ergebnis werden die Hürden für Naturschutzverbände und Private für erfolgreiche Einsprachen und Beschwerden gegen diese Anlagen deutlich erhöht.

Die Aussage des BFE im Faktenblatt, dass sich an den bestehenden Rechtsmitteln grundsätzlich nichts ändert, trifft somit nur auf die formale Abfolge der Verfahrensschritte zu. In materieller Hinsicht werden die Rechtsschutzmöglichkeiten jedoch deutlich eingeschränkt.

Fazit

Das neue Stromgesetz schränkt die demokratischen und rechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung von Grosskraftwerken wie Wasserkraftwerken, Windparks und alpinen Solarparks stark ein. Die Aussage des BFE im vierten Faktenblatt, wonach die demokratischen Mitspracherechte der Bevölkerung und die juristischen Beschwerdemöglichkeiten von Privatpersonen und Verbänden bestehen blieben, ist beschönigend und geht am eigentlichen Thema vorbei.

Es trifft zwar zu, dass sich an den demokratischen Mitspracherechten der Bevölkerung nichts ändert. Über den wichtigsten Entscheid, die Einstufung eines Gebietes als «geeignetes Gebiet» für Grossanlagen und dessen Aufnahme in den kantonalen Richtplan, kann die Bevölkerung jedoch nicht abstimmen.

Formal ebenfalls richtig ist, dass das neue Stromgesetz an den bestehenden juristischen Beschwerdemöglichkeiten grundsätzlich nichts ändert. Doch auch das ist nicht der Punkt. Die Beschwerdemöglichkeiten nützten wenig, wenn der Bau von Grosskraftwerken aufgrund übergeordneter Interessen gerichtlich kaum verhindert werden kann.

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